Disruptive Tools der Zukunftsforschung: #Szenario-Hacks #Scenario-Bias
Der Prozess der Erstellung von Projektionen, insbesondere durch Szenarien, ist gleichzeitig kreativ und strukturiert. Einerseits soll das Szenario fesseln und zu neuen Sichtweisen auf ein Thema anregen. Andererseits soll die Vorhersage auf einer plausiblen Grundlage beruhen. Dieses Gleichgewicht kann schwierig sein, und es gibt Fallstricke, über die man leicht stolpern kann.
Entsprechende »Regeln« waren schon immer ein heißes Eisen in der Zukunftsforschung. Wurden in der untersuchten Prognose zum Beispiel nur die Interessen der wirtschaftlich und politisch dominanten Gruppen berücksichtigt? War die prognostizierte Zukunft im Wesentlichen eine Version der Gegenwart, nur mit raffinierteren Gadgets? Jede*r seriöse Zukunftsforscher*in kennt das: Es kann mitunter ernüchternd sein, mit diesen Leitlinien im Hinterkopf auf einen alten Szenarioprozess zurückzublicken.
Oder: Eine der wichtigsten Regeln, die angehenden Szenario-Expert*innen beigebracht werden, ist die Vermeidung von »normativen Szenarien« oder Projektionen, die auf eine vorgegebene, in der Regel bevorzugte Zukunft hinauslaufen. Die Vorstellung einer Zukunft oder von Zukünften, in denen alles wie gewünscht verläuft, hat selten analytischen Wert. Normalerweise ist es unsere Aufgabe, den Menschen die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen aufzuzeigen, und ihnen nicht nur zu präsentieren, was sie gerne hätten, was passieren sollte.
Derlei ist ein Trugschluss, nennen wir ihn »Scenario-Bias«.
Manchmal kann es nützlich sein, gegen Regeln zu verstoßen, selbst gegen goldene. Manchmal lässt sich der Kern einer Projektion oder Antezipation nur erreichen, wenn man etwas Unerwartetes tut. Und manchmal gibt’s dafür sogar Vorbilder. Bis heute leuchtend dafür ist Herman Kahn, maximal umstritten. Dieser Herr war in den 1950er Jahren der trotzigen Überzeugung, man müsse in Atomkriegsszenarien auch bedenken, wie ein Atomkrieg zu gewinnen und was nachher zu tun sei. Das wär’ einen Szenarioprozess wert! Was nicht so gut ankam - heute ist dieser Überzeugung einmal mehr gruselig.
Der Hintergrund dieser Idee ist jedoch methodisch cool, disruptiv und - logisch (!). (Wir lieben die radikalen Schulen der Foresight...)
Zunächst: Welcher Gedanke steckt dahinter? Nehmen wir den Zukunftsforschungs-Mainstream als Kontrastfolie. In Szenario-Prozessen gibt es praktisch kein Referenz-Szenario, das beispielsweise einen WW III ernsthaft bedenkt; zu dystopisch. Derlei wird mit erwähnt, selbstverständlich, es ist ja eine Option - aber die Referenz ist dann das lösungsorientierte, optimistische Zukunftsbild. Praktisch immer.
Die unterschiedlichen Szenarien laufen daher im Wesentlichen auf das immer gleiche Ergebnis hinaus: auf eine Welt, in der wir die allgegenwärtige Gefahr eines Atomkriegs erfolgreich beseitigt haben, oder: in der alle Akteure im Konfliktfall rational einsichtig sind, diesen worst case konsequent zu verhindern bzw. nur als Drohkulisse zu nutzen; oder: in der sich andere Probleme in den Vordergrund drängen (Ökologie) ... Bloß ist dann der Aufwand witzlos. Das Ende scheint alternativlos (ohne, dass man dies offenlegen oder gar so nennen müsste) und recht ermutigend. Gegen eine solche Eindimensionalität im Zukunftsdenken richtet sich aber doch die Szenariotechnik eigentlich!?
Herman Kahn dachte anders. Seine Intuition: Solches »Denken« ist nichts anderes als Ideologie, Wunschdenken oder Weltangst, Motto: ›Was nicht sein darf, das nicht sein kann.‹ Sein Gegenvorschlag: Lasst uns methodisch spitze Post-Atomic-War-Szenarien machen und schauen, was dabei herauskommt. Das Ziel: Jedes heute denkbare Szenario führt hier auf einem anderen Weg zu einem fiktiv vorbestimmten Ergebnis. Es handelt sich dabei nicht einfach um Variationen eines Themas, sondern die unterschiedlichen Wege bedeuten, dass das gleiche Ergebnis - eine Welt, die in einen Atomkrieg schlittert – jedes Mal völlig anders zustande kommt und sich jedes Mal, etwa politisch, auch ganz anders anfühlt. Kernannahme: Viele Wege führen ins Desaster. Und alle müssen wir systematisch verstellen.
Szenario-Hack heißt: Durch diese Technik die eigenen Denkfehler austricksen
Das ist logisch und konsistent. Die meisten Szenariodiskussionen nach Erstellung beginnen mit der Frage »Was haben wir jetzt zu tun?«, wobei die Zukunftsbilder klassisch in unterschiedliche Richtungen gehen - man kann sich das als einen sich ausweitenden Kegel der Möglichkeiten vorstellen (klassische Darstellung: der »Tichter«). Je nach Referenz-Szenario gibt es eben sehr Unterschiedliches zu tun.
Beim Szenario-Hack stellen wir stattdessen die Frage: »Wie kommen wir aus der Vielfalt heutiger Möglichkeiten konkret und ausschließlich zu dem, was wir wollen – oder zu dem, was wir nicht wollen?« Der Kegel ist umgedreht. Die Engführung am Schluss ist eine direkt angepeilte Zukunft. Erkenntnispotenzial: Welche sehr verschiedenen Faktoren und welche ihrer Kombinationen würden uns alle zu dem einen gewünschten (oder zu verhindernden) Ergebnis führen?
Obwohl alle Szenarien im atomaren Weltuntergang enden, bedeutet dies nicht, dass alle Szenarien besonders schreckliche Zukünfte beleuchten müssen (hallo Scenario-Bias)! Denn auf dem Weg ins Desaster eröffnet jedes dieser Szenarien andere Ausstiegs- und Musterbruch-Optionen. Nützliche Szenarien sollten sich lebendig und plausibel anfühlen, mit ihren eigenen speziellen Kombinationen von Verbesserungen und Problemen. Sie stellen die völlig verschiedenen Wege dar, die sich Menschen einfallen lassen können, um den Weltuntergang zu realisieren (als legitim, alternativlos o. Ä dastehen zu lassen). Und wenn wir die kennen, sind wir deutlich besser gerüstet, jeden dieser Wege unbegehbar zu machen, als vorher.
Ja, VUCA ist anstrengend. Szenario-Hacks sind methodische und kognitive Self-Hacks und surfen hart an der Grenze zur Pathologie (›Atomkriegsszenarien - wo gibts denn so was?!‹). Aber auch für unsere Zunft gilt: Cognitive Sciences matter! Die Zukunftsforschung unterliegt ebenso fetten Bias-Strukturen wie alle anderen Wissenschaften auch, bloß müssen wir noch viel neurotischer über sie wachen als die anderen.
Die Regeln (der Szenariobildung) zu brechen, kann eine nützliche Methode sein, um die Komplexität eines Problems zu veranschaulichen, die bei einem konventionellen Ansatz möglicherweise übersehen wird, vielleicht auch gar nicht darstellbar ist. Es erlaubt zu erkennen, dass sich die Bedeutung eines Themas – zum Beispiel eines Tabu-Konzepts – je nach der im Szenario aufgebauten Welt ändert. Das ist kein Freibrief, um die methodischen Richtlinien eines professionellen Szenarioprozesses über Bord zu werfen, aber doch eine Einladung, den (historisch-veränderlichen) Gründen hinter den Regeln mehr Aufmerksamkeit zu schenken: Herr Putin lässt grüßen. Hätten wir mal früher über Korridore ins Desaster nachgedacht!
Ungewissheit bedeutet den Zwang zur Aufstufung methodischer Komplexität. Gut findet das wohl niemand, aber es ist auch kein Hexenwerk. Und Unternehmen auf globalen Märkten brauchen VUCA-adäquate Planungswerkzeuge - glücklicherweise haben wir sie längst.
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